Noch einmal 16, 17 oder 18 Jahre alt sein…. Ein Traum… oder???
Diese oft gehörte pauschale Aussage zeugt wohl eher von unserer Begabung als Verdrängungskünstler. Und dabei sind die besonderen Umstände, gerade heute jung zu sein, noch gar nicht berücksichtigt.
Was bedeutet es „heute“ jung zu sein? Die körperlichen und mentalen Befindlichkeiten haben sich nur gering geändert. Kleine Zeitreise gefällig?
Atmen Sie tief durch und denken sie zurück:
Sie werden wach, Sie schwitzen, die Haare sind schon wieder fettig, Ihre Haut glänzt ölig und es sprießt mal wieder ein Pickel an der blödesten Stelle. Sie versuchen ihre Gedanken zu ordnen. AUFSTEHEN ruft es von irgendwoher, das Chaos in ihrem Kopf lässt nicht nach…das war heute mit der Mathearbeit, oder??? Ob Leon heute auch wieder da ist? Er hat mich angeschaut, er hat mich angeschaut… Oh Gott!!! Ich kann nicht gehen heute…dieser Pickel!!! Bauchschmerzen wären gut… Mathearbeit, oh verdammt… diesmal muss ich schreiben… ICH WILL SCHLAFEN… „AUFSTEHEN!!!!“ Schallt es lauter…ich kann nicht, ich bin krank. Lisa war gestern shoppen. Die sieht heute bestimmt wieder Hammer aus… Ich stehe nie wieder auf!!! Ich glaub der Mathelehrer kann mich eh nicht leiden, egal was ich mache… “AUFSTEHEN!!!!“ Aahhhhhh, hat denn hier niemand Verständnis für mich…boah ich muss aufstehen ich muss Sophia anrufen und ihr erzählen was Emma über sie gesagt hat ….verdammt, wieso geht die Hose nicht zu.. Ich werde fett… „FRÜHSTÜCK!!!“ … ich esse nie wieder was… Leon… ich will ihn sehen…
Soweit der weibliche Rückblick. Ein männlicher Rückblick ist sicher genauso erhellend.
Neben dem verschobenen Wach-Schlaf-Rhythmus, den Hormonen die für ein Gefühlschaos sorgen, ist auch noch die Hirnleistung eingeschränkt, da einige Umbauarbeiten stattfinden, anders gesagt, das Hirn reift heran.
Der Teil des Gehirns, der für Gefühle und Impulse sowie deren Verarbeitung zuständig ist (das limbische System) reift dabei schneller als andere Gehirnareale.
Am Schluss des Gehirnreifungsprozesses steht das Vorderhirn – der Teil, der vereinfacht gesagt für Vernunft und Vorsicht zuständig ist. Solange dieser Part des Gehirns hinter dem emotionalen und irrationalen zurückbleibt, können Jugendliche gar nicht anders, als sich unvorhersehbar und vermeintlich schwierig zu verhalten.
Der familiäre Zusammenhalt wird auf die Probe gestellt, da die Vertrauenspersonen jetzt mehr und mehr bei gleichaltrigen Freunden gesucht werden.
Auch der Körper steckt im Umbau. Alles wird darauf ausgerichtet sich der Aufgabe zu stellen, die das Leben bereit hält… Fortbestand der Art.
Was hier mit zoologischem Charme daher kommt 😉 bedeutet Schwerstarbeit auf allen Ebenen.
Durch die Hormone werden die Talgdrüsen angeregt, was zu Akne und Körpergeruch führen kann. Die Körperbehaarung wächst. Meist beginnt sich bei den Mädchen die Brust zu entwickeln, bevor die erste Menstruation einsetzt. Die Vulva beginnt, Flüssigkeit zu produzieren.
Bei den meisten Jungen findet das körperliche Wachstum zwischen 10-17 Jahren statt. Die Extremitäten wachsen zuerst, der Rest des Körpers zieht nach. Deshalb sehen Jungen in diesem Alter oft schlaksig aus. Die Muskeln treten hervor, der Adamsapfel bildet sich aus. Häufig findet der Stimmbruch vor dem 15. Lebensjahr statt. Zwischen dem ca. 11.-17. Lebensjahr wächst der Penis. Hoden und Eichel verändern sich.
All diese Veränderungen sorgen für große Verunsicherung bei den Jugendlichen. Das wachsende Interesse für das andere Geschlecht wird zur Herausforderung die alle anderen Themen überlagert.
Damit alleine wäre man in diesem Alter schon ausgelastet, wenn da nicht noch die drängende Frage nach der Zukunftsperspektive wäre. Das Elternhaus und das Bildungssystem stehen fragend und drängend vor den Heranwachsenden.
Bis hierher hat sich nicht viel verändert, sieht man einmal von der schwierigeren Frage der Identitätsentwicklung ab. Während die Rollenbilder früher meist klar abgegrenzt waren, ist dies heute offener angelegt. Dies birgt mehr Entfaltungspotential aber auch Konfliktpotential, wenn die Erwartungen an das genderneutrale Aufwachsen durch allzu geschlechtsspezifische Verhaltensweisen enttäuscht werden. Anders ausgedrückt, wenn Ella doch lieber mit Puppen spielt und der Farbe rosa frönt während Henry laut kreischend Autogeräusche imitiert.
Was ist noch anders, ach ja, die Maske… Sie erschwert den Reifeprozess ungemein. Die freie Entfaltung ist stark eingeschränkt. Drei Schülerjahrgänge wurden um Ihre Abschluss-Feiern gebracht. Ganz abgesehen von privaten Partys, Clubbesuchen, Kino und sonstigen Veranstaltungen, die den ungezwungenen Umgang auch mit dem anderen Geschlecht ermöglichen. Das Lernen wurde durch Unterrichtsausfälle erschwert und das Lehren von Lehrern an überforderte Eltern übertragen. Mancher Traum von der eigenen Studentenunterkunft weit weg von zuhause platzte, da die Uni nur noch online stattfand. All dies, nebst den Familienkrisen ausgelöst durch Homeoffice gepaart mit Homeschooling und Lagerkoller löst nicht nur bei Erwachsenen psychische Überforderung aus.
Sicher ist es heute leichter sich seiner sexuellen Ausrichtung/Veranlagung bewusst zu werden und darüber mit Vertrauenspersonen zu sprechen. Sie offen zu leben, ist aber auch heute nicht einfach. Die Angst vor Ablehnung und Bloßstellung ist im Zeitalter von sozialen Medien auch verständlich. Denn mit der vielgepriesenen verständnisvollen, vorurteilsfreien, aufgeklärten und toleranten Gesellschaft ist es meist nicht so weit her. Es braucht auch heute Mut „anders“ zu sein. Vor allem braucht es eine selbstbewusste, starke Persönlichkeit. Leider sind diese Attribute gerade in der Zeit des Heranwachsens nicht so ausgereift.
Aus diesem Grund ist es so wichtig, Kindern und Jugendlichen den Rücken zu stärken und ihnen Flügel zu verleihen, nachdem die Wurzeln der Kindheit ausgedient haben.
Ja und dann ist da noch das Thema berufliche Entwicklung…
Ich höre Sie sagen: „… aber da haben es die Kinder doch heute viel leichter, diese endlosen Möglichkeiten und dann noch Auslandsaufenthalte… das hatten wir nicht!“
Aber genau das ist häufig das Problem. Bei der Vielzahl der Möglichkeiten hat man permanent das Gefühl, noch nicht das Richtige gefunden zu haben. Auslandsaufenthalte, ob in Form von Schüleraustausch, Auslandssemester oder work and travel, waren bis zur Pandemie fast Standard.
Abitur ist das erklärte Ziel und geforderte Muss, egal ob die persönliche Veranlagung eher praktisch als wissenschaftlich ist, gilt nach wie vor das Studium als das non plus Ultra. Wo später mal all die Köche, Krankenschwestern, Erzieher, Pfleger, Schreiner, Glaser, Elektriker, KFZ-Mechatroniker…etc. herkommen sollen, die das Heer von Akademikern versorgen… wer weiß… vielleicht findet ja noch rechtzeitig ein Umdenken statt ;-). Denn auch Ausbildung ist eine Möglichkeit, die Karrieren möglich macht.
Ach ja „Karrieren“, ein Einfaches, ich mache meinen Beruf gerne, reicht heute vermeintlich auch nicht mehr. Es wird Karriere erwartet. Neben der Familie versteht sich. Mutter sein, Vater sein und gleichzeitig beide in Vollzeit, läuft!… nicht gut, mit Abstrichen hier und da,… aber läuft! Vor allem läuft das Leben an einem vorbei… Nicht falsch verstehen, es ist gut, dass heute alles möglich ist und für den ein oder anderen ist das auch der Weg. Aber eben nicht für alle und auch das muss gelebt werden dürfen.
Vielfach gibt es auch hier neue Lebensformen. Work-Life-Balance, das 30-30 Modell (beide Partner arbeiten 30 Stunden die Woche und teilen sich die familiären und häuslichen Aufgaben), Home-Office, Sabbatical… aber halt… auch hier wieder, nicht enden wollende Möglichkeiten.
Wunderbar, aber wirklich so einfach und erstrebenswert? Heute jung zu sein bedeutet, ständig Entscheidungen zu treffen, im Wissen darüber, gar nicht alle Möglichkeiten zu kennen und somit vielleicht die falsche Entscheidung zu wählen. Und es hört nie auf. Der gesellschaftliche Wandel ist nie so schnell vorangeschritten wie heute.
Sie sehen, das „Meer der Möglichkeiten“ birgt auch die Gefahr des Ertrinkens.
Denken Sie daran, wenn Sie mal wieder genervt sind vom Nachwuchs.
Falls Sie oder ihr Kind Unterstützung bei der „Wegfindung“ benötigen bin ich gerne für Sie da, sollte es erforderlich sein auch online.
Sprechen Sie mich an.
Ich wünsche Ihnen wie immer, Glück und Zuversicht, bleiben Sie gesund,
Petra Radermacher